Heute starten wir auf diesem Blog eine neue Serie, in der wir einige der wichtigsten Einzelereignisse aus der Mord- und Anschlagsserie des NSU mit den jeweils zum Verständnis wichtigsten Tatsachen und Details zum Tathergang schildern wollen. Zweitens und vor allem sollen die drängendsten offenen Fragestellungen zu den einzelnen Fällen vorgestellt werden – und zwar ohne den in der „NSU-Aufklärer-Szene“ üblichen Klugscheißer-Jargon. Ebenso sollen rein spekulative Erklärungsansätze eine untergeordnete Rolle spielen.
Zeitlich fällt der Kölner Bombenanschlag in die Mitte der Ceska-Mordserie und in eine der aktivsten Phasen der Gruppe; erst im Februar 2004 erschoss die Terrortruppe in Rostock Mehmet Turgut – Opfer Nummer 5. Wenige Wochen vor der Nagelbombenattacke erbeutete der NSU bei zwei Überfällen auf Sparkassen im Chemnitz mehr als 100.000 Euro. Der sechste der insgesamt zehn dem NSU zugerechneten Morde sollte exakt ein Jahr nach der Kölner Bombenexplosion in Nürnberg stattfinden.
Zunächst zur Chronologie der Ereignisse am Nachmittag des 9. Juni 2004 in Köln-Mülheim, wie sie aus den online verfügbaren Quellen bzw. offiziellen Statements der Polizei und des BKA, dem Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des Bundestags sowie aus Medienberichten und Zeugenaussagen rekonstruiert werden kann:
Szene 1 – 14:34: Die in südlicher Richtung in den Tatort Keupstraße mündende Schanzenstraße in Köln-Mülheim ist im Jahr 2004 unter anderem Sitz des TV-Musiksenders bzw. Medienunternehmens VIVA Media AG (Hausnummer 22). Zwei an diesem Gebäude straßenseitig und seitlich vom Haupteingang installierte Videokameras (interne Nummern 01 und 06 – wichtig zu wissen: Die Uhrzeit in den Videoaufzeichnungen stimmt nicht, für die Echtzeit müssen ca. 16 Minuten addiert werden) zeichnen an diesem Frühlingsnachmittag zunächst eine einzelne männliche Person mit Baseballmütze, dunklem T-Shirt und knielanger Hose auf, die auf dem östlichen Bürgersteig in langsamer Geschwindigkeit zwei Mountainbikes in Richtung Keupstraße schiebt. Die Ermittler werden diese Person, die später offiziell als Uwe Böhnhardt identifiziert wird, obwohl nur der untere Bereich des Gesichts klar erkennbar ist, bei der Fahndung bzw. in Dokumenten als „Täter 1“ bzw. „Person Nr. 1“ bezeichnen. Nach behördlicher Einschätzung handelt es sich bei den zwei Mountainbikes um die für die spätere Flucht verwendeten Fahrräder, die vom NSU-Mitglied vermutlich im Bereich des geplanten Anschlagsorts – wenn auch in sicherer Entfernung zur Explosion – abgestellt werden sollten. Im Video unten sind die Details zu erkennen ab ca. Laufzeit 00:40.
Szene 1 – Kamera 01, Blickrichtung Nord:
Szene 1 – Kamera 06, Blickrichtung Süd, Richtung Einmündung in die Keupstraße:
Es vergehen 12 Minuten.
Szene 2 – 14:46: Die Überwachungskameras zeichnen zum zweiten Mal Uwe Böhnhardt auf, diesmal aus südlicher Richtung kommend, aber auf derselben Route über den östlichen Bürgersteig – ohne die beiden Fahrräder. In der rechten Hand trägt das NSU-Mitglied einen Zettel oder ähnlich flachen Gegenstand, über dessen nähere Herkunft oder Bedeutung bis heute nichts bekannt ist.
Szene 2 – Kamera 06:
Szene 2 – Kamera 01:
Es vergehen etwa 20 Minuten.
Szene 3: 15:05: Etwas nördlich von der (nach Osten ins Gewerbegebiet abknickenden) Schanzenstraße und parallel zur Markgrafenstraße bzw. den Schienen der S-Bahn-Linie 4 verläuft ein asphaltierter Weg, der 2004 durch weitgehend unbebautes Gebiet führt und offenbar gerne als Parkplatz genutzt wird, wie Luftaufnahmen zeigen. Unten eine Ansicht der Umgebung aus Google Maps. In diesem Bereich, nahe der Einmündung zur westlich gelegenen S-Bahn-Haltestelle Von-Sparr-Straße, fällt der Zeugin Gerlinde B. an diesem Nachmittag ein junger Mann auf, etwa 1,80 Meter groß, mit „länglichem“ Gesicht, Baseballkappe tragend, der auch mit seiner Kleidung „sportlich“ gewirkt hat, der allerdings „kein deutscher Mann [war], sondern (…) eher mediterran“ ausgesehen habe. Diese Aussagen wird die Frau erst Ende 2011 nach dem Auffliegen des NSU-Komplexes tätigen, nachdem Sie zufällig Fotos der Bombenleger in einer Nachrichtensendung im Fernsehen gesehen hatte. Der Mann habe das – von B. korrekt als silbern und „neu“ beschriebene – Fahrrad mit dem Hartschalenkoffer „ganz langsam und vorsichtig geschoben“ – und deswegen sei er ihr bei der kurzen Begegnung – Entfernung zum Täter in diesem Moment 4-5 Meter – überhaupt aufgefallen. Einige dieser späteren Aussagen sollen übrigens unter Hypnose erfolgt sein.
Hier die Umgebung der Haltestelle Von-Sparr-Straße – die Schanzenstraße liegt Richtung Süd (im Bild nach rechts, Quelle: Google Maps):
Die Personenbeschreibung, Stichwort Baseballmütze, sportliche Kleidung, schlankes Gesicht usw. – bis eben auf die „mediterrane“ Erscheinung – passt ziemlich genau auf Uwe Böhnhardt – also den offiziellen „Täter 1“, den G. nach Betrachtung der Täterporträts ausdrücklich erkannt haben will. Das Filmmaterial aus den VIVA-Kameras lässt aber „offiziell“, also nach Interpretation der Behörden, Uwe Mundlos als den „Bombenfahrradschieber“ erkennen – damit also „Täter 2“. Wen der beiden hat Zeugin G. also wirklich gesehen?
Es vergehen nach dieser Szene nur wenige Minuten bis die Kameras am VIVA-Gebäude erneut das NSU-Duo erfassen.
Szene 4 – 15:09: Vor der VIVA-Zentrale herrscht zu diesem Zeitpunkt hektischer Betrieb; mehrere Personen versammeln sich vor dem Eingang, sitzen teils auf den Treppenstufen, unterhalten sich und blicken auf die Straße. Niemand ahnt, dass sie in diesem Moment Zeugen der unmittelbaren Tatvorbereitung für einen Nagelbombenanschlags werden. Kamera 01 (und danach 06) zeichnet zunächst „Täter 1“ – also Uwe Böhnhardt – auf, der sich in Richtung Keupstraße bewegt und zwei Plastiktüten trägt. In der rechten Hand eine Tüte, in der sich offenbar ein kantiger Gegenstand befindet – nach Einschätzung der Ermittler die für die Zündung der Bombe vorgesehene FM-Fernbedienung. In der anderen Tüte soll sich laut BKA bzw. Ermittler ein „fladenbrotähnlicher Gegenstand“ befunden haben, über dessen Zweck bis heute nichts näheres bekannt ist. Hinweis: Die Tüten sind ca. ab Zeitpunkt 00:36 im ersten Video am deutlichsten erkennbar.
Etwa eine Minute später (Laufzeit im Video ab 01:00) gerät „Täter 2“ ins Blickfeld von Kamera 01, also mutmaßlich Uwe Mundlos. Er schiebt das Tatfahrrad mit dem deutlich sichtbaren dunklen Hartschalenkoffer (Top-Case) auf dem Gepäckträger. In diesem Koffer befindet sich die Bombe, bestehend aus ca. fünf bis sechs Kilogramm Schwarzpulver (dasselbe Material wie beim NSU-Bombenanschlag 2001 in der Probsteigasse in Köln) und rund 700 Nägeln, die zuvor in Watte gepackt und mit dem Sprengsatz in eine 3,6 Kilogramm schwere, leere Butangasflasche gefüllt worden waren. Zusammen mit dem Kunststoffbehälter sowie dem Zünd- und Empfangsmechanismus, der sich vermutlich teilweise in der Seitentasche am Gepäckträger befand, muss die brisante Konstruktion also ca. 20,5 Kilogramm gewogen haben – sicherlich einer der Gründe, warum „Täter 1“ das kopflastige Fahrrad nur so langsam schieben konnte. Erschütterungen scheint der Täter ebenfalls vermeiden zu wollen. Die Szene ist im 06-Video unten ab Sekunde 00:35 am besten zu erkennen.
Die Ermittler sind sich sicher: Bereits jetzt, während des langsamen Transports der Nagelbombe zur Keupstraße besteht eine ununterbrochene Funkverbindung zwischen Sender (die FM-Fernbedienung in der Plastiktüte) sowie Empfänger (befindlich in der Seitentasche des Fahrrads mit der Bombe).
Der nicht zur kurze, nicht zu große räumliche Abstand zwischen Böhnhardt und Mundlos ist deswegen für die Ermittler kein Zufall, sondern Kalkül; einerseits sollen zufällige Beobachter als eventuelle Zeugen die beiden Täter durch deren Nähe nicht in einen Zusammenhang bringen können, andererseits aber darf die Distanz zwischen Sender und Empfänger nicht so groß werden, dass die Empfangsstärke zu schwach wird, so dass zufällig auftretender Streu- oder Störfunk aus der Umgebung die Bombe bereits bei der Tatortannäherung zündet und damit die beiden NSU-Männer tötet.
Szene 4 – Kamera 01:
Szene 4 – Kamera 06:
Entgegen der ursprünglichen Planung gehen Mundlos und Böhnhardt aber offenbar nicht sofort zur Tatausübung über, denn in der Keupstraße sind ca. gegen 15:11 zwei Politessen unterwegs, die eine Verkehrsbehinderung durch einen Mercedes-Benz auflösen müssen. Es wird auch von Streit unter den Beteiligten berichtet, den die Mitarbeiter des Ordnungsamts schlichten müssen. Es kommt ein Plan B ins Spiel.
Wegen der neuen Situation ziehen sich die NSU-Mitglieder offensichtlich zunächst von der Einmündung Schanzenstraße-Keupstraße zurück, bewegen sich mit Bombe in den wenig bebauten Bereich gegenüber des VIVA-Gebäudes und warten dort auf einem Fahrradabstellplatz ab, bis sich die Lage wieder beruhigt. Hier fallen die Männer nicht weiter auf. Die im Bereich des späteren Tatorts abgestellten Mountainbikes (wie zu sehen in Szene 1) verbrachten die Täter offenbar auch vorübergehend an diesen sicheren Ort. Von diesem Transport existiert allerdings kein Videomaterial.
Szene 5 – 15:50: Nachdem Böhnhardt und Mundlos rund eine halbe Stunde abgewartet hatten, überqueren Sie die Schanzenstraße etwas südlich vom Eingang des VIVA-Gebäudes und bewegen sich sehr wahrscheinlich entlang des bereits zuvor genutzten Bürgersteigs zum Anschlagsort. Erst erscheint im Sichtfeld von Kamera 06 „Täter 1“ mit den beiden Montainbikes, dahinter (ab 00:22 Laufzeit im Video) „Täter 2“ mit der Bombe auf dem Rad, etwas langsamer dahinter folgend. Beide Fahrradschieber sind auf dem Videomaterial nur abgeschnitten zu erkennen.
Szene 5 – Kamera 06:
Szene 6 – 15:56: Einem Mitarbeiter im Friseursalon Özcan in der Keupstraße 29, etwa 50 Meter östlich der Abbiegung in die Schanzenstraße, fällt ein Mann mit Baselballkappe und „blonden Koteletten“ vor dem Laden auf, der ein Fahrrad vor oder neben sich herschiebt und dann vor dem linken Schaufenster des Salons durch Herunterklappen des (selbstgebauten) Zweibeinständers abstellt.
Kurz darauf explodiert die per Funk gezündete Bombe. Es gibt 22 Verletze, davon vier schwer Verletze; wie durch ein Wunder kommt aber keines der Opfer ums Leben. Bis zu einer Entfernung von 250 Metern werden durch die Druckwelle und umhergeschleuderten Stahlnägel rund 30 Fensterscheiben zum Bersten gebracht. Der Friseursalon Özcan wird komplett verwüstet, auch andere Ladengeschäfte in der eng bebauten Straße sowie 15 PKW erleiden starke Beschädigungen.
Die Ermittler vermuteten: Die beiden NSU-Mitglieder hielten sich in der kurzen Phase zwischen dem Platzieren der Bombe und der Zündung selbst noch in der Keupstraße auf, allerdings in einer Einfahrt etwas östlich des Explosionsorts, um dort selbst vor der Wirkung der Detonation geschützt zu sein. Unten im Bild wird die kurze Distanz zum Friseursalon deutlich (grün umrandet der damalige Standort des Fahrrads, Quelle: Google Maps).
Die Fernzündung mittels der umgebauten Modellbau-Fernbedienung wäre übrigens laut technischer Analysen des BKA auch aus deutlich größerer Distanz noch möglich gewesen. Warum dann diese Nähe der Bombenleger zum Explosions- und damit Gefahrenort?
Interessante Beobachtungen macht direkt nach der Explosion der kurdische Steuerberater Ali D., der sein Büro wenige Meter weiter in der Keupstraße 37 betreibt. Nachdem D. sich nach der Detonation vor dem Nachbarhaus zunächst in Erwartung eines zweiten Knalls unter seinem Schreibtisch in Sicherheit gebracht und seinen Kopf geschützt hatte, blickt er aus dem Schaufenster bzw. geht dann auf die Straße . Dort trifft er auf zwei zivil gekleidete und bewaffnete Männer. Doch zum Zeugen Ali D. weitere Details unten.
Unmittelbar nach der Auslösung treten die Böhnhardt und Mundlos jedenfalls ohne jeden weiteren Zeitverzug die Flucht an – wie auch das BKA vermutet, in unterschiedlichen Richtungen.
Szene 7 – 15:57: Innerhalb von maximal 1-2 Minuten nach der Explosion gerät nach offizieller Darstellung Täter 2 – also Uwe Mundlos – ins Blickfeld von Kamera 06. Er fährt auf dem Rad wie man klar erkennt mit erheblicher Geschwindigkeit Richtung Norden zurück. In der Hand bzw. am Lenker festgemacht die Plastiktüte mit dem besagten flachen Gegenstand (das „Fladenbrot“). Die Tüte, die vermutlich die Fernbedienung enthielt, trägt Mundlos bei der Entfernung vom Tatort offenbar nicht bei sich. Sie sollte übrigens auch später von den Ermittlern nicht mehr aufgefunden werden.
Klar erkennbar sind auf den Aufzeichnungen aus diesen Minuten übrigens auch die verwunderten Reaktionen der Passanten bzw. Mitarbeiter von VIVA auf den lauten Knall aus Richtung Keupstraße. Der Täter, der es so eilig hat, sich in der Gegenrichtung zu entfernen und nur wenige Meter weiter am Gebäude vorbeifährt, scheint in diesem Moment niemandem aufzufallen.
Szene 7 – Kamera 06:
Szene 7 – Kamera 01:
17:04: Das LKA in Düsseldorf gibt die erste Lagemeldung heraus und informiert unter anderem das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), das BKA, das Bundesinnenministerium (2004 unter Otto Schily) sowie das Landesinnenministerium NRW.
Der Wortlaut:
betr.: terroristische gewaltkriminalitaet hier: anschlag auf zwei geschaefte in koeln – muelheim – bezug: fernmuendliche vorausmeldung am 09.06.2004, 16:35h durch br koeln vorbehaltlich der fernschriftlichen bestaetigung durch die tatortbehoerde teile ich folgenden sachverhalt mit: bei der explosion von zwei geschaeften auf der kolbstr. in koeln-muelheim wurden 10 bis 15 personen verletzt, davon einige schwer. da im umkreis zimmermannsnaegel gefunden wurden geht man von einem anschlag aus.
17:45: Das LKA verbreitet eine neue Meldung und ändert die erste Fassung von 17:04.
Der Text der neuen Meldung:
die im bezug genannte lageerstmeldung wird korrigiert. bisher liegen keine hinweise auf terroristische gewaltkriminalitaet vor. nach bisherigen erkenntnissen handelt es sich um einen anschlag unter verwendung von usbv bei dem personen- und sachschaden entstand. es wird nachberichtet.
Die Abkürzung USBV steht übrigens behördenintern für „Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung“.
19:53: Eine Person, die in Protokollen nur als „Dr. M.“ bekannt ist, zur damaligen Zeit Beschaffungsleiter Rechsextremismus im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), ruft im Lagezentrum an; der Anrufer bittet um Herstellung eines Kontakts zu einer Person in Abteilung 6 im Innenministerium Nordrhein-Westfalen, also dem Landesverfassungsschutz in Düsseldorf.
Mit der Bezeichnung „Beschaffung“ ist hier übrigens die Beschaffung von V-Personen (aus der rechtsextremen Szene) gemeint.
Kurz darauf telefoniert Dr. M. mit Peter H., dem Leiter des Beschaffungsreferats deutscher Extremismus in Abteilung 6 im Innenministerium NRW, also ebenfalls zuständig für V-Leute aus dem rechtsradikalen Milieu. Über den Inhalt des Gesprächs ist offiziell nichts bekannt; Dr. M, der 2012 aufgrund einer „schweren Erkrankung“ nicht persönlich vor dem Untersuchungsausschuss erscheinen konnte, versicherte später in einem schriftlichen Statement, ihm sei das Telefonat „nicht mehr präsent“ (Seite 674 im Abschlussbericht). Und laut Peter H. sei das Gespräch nur „informell“ gewesen, es sei nicht etwa um den Tatgeschehensablauf gegangen. Und wohl auch nicht um möglicherweise involvierte V-Leute?
Soweit zur Rekonstruktion der wichtigsten und als mehr oder weniger gesichert geltenden Ereignisse vor und nach dem Nagelbombenanschlag. Kommen wir zu den Rätseln und offenen Fragen im Fall Keupstraße 2004:
1. Warum wurde die polizeiliche Lagemeldung weniger als zwei Stunden nach dem Anschlag bzw. der ersten Meldung bereits geändert – und auf wessen Anweisung hin?
Bis heute ist ungeklärt, welche Person die Änderung veranlasst hat und warum der Begriff „terroristischer Anschlag“ so früh gestrichen wurde – keiner der vielen Untersuchungsausschüsse konnte diese Frage beantworten. Bekannt ist unter anderem laut Darstellung in „Heimatschutz“ von Aust/Laabs, dass nach Versand der ersten Lagemeldung ein Mitarbeiter aus dem Ministerbüro im Innenministerium NRW um 17:30 beim Lagezentrum anruft und weitere aktuelle Informationen zum Kölner Anschlag fordert. Kurz darauf, um 17:36 nimmt ein Mitarbeiter des Lagezentrums mit dem LKA Kontakt auf und drängt auf die Umformulierung. Das LKA kommt der Bitte nach, der Begriff „terroristisch“ wird wie oben zitiert gestrichen.
Weitgehend geklärt scheint, dass die Einwirkung mit dem Ziel der Korrektur der Meldung direkt aus dem Landesinnenministerium kam. In der Vernehmung vor dem 2. Untersuchungsausschuss (Abschlussbericht, Seite 672ff. – Download, PDF, 40 Megabyte) beteuerte der damalige Innenminister Fritz Behrens (SPD) allerdings:
Das geht nicht auf meine Initiative zurück, sondern das hat die Polizei von sich aus veranlasst …
Direkt befragt, ob er zustimmt, dass die Meldung auf Initiative des Innenministeriums NRW geändert wurde, antwortete der Minister dann:
Das kann ich ja gar nicht bestreiten (…) Ich will nur darauf hinweisen, dass ich in diese Richtung keinerlei Veranlassung gegeben habe (…) nicht von mir veranlasst …
Er vermutet:
Wenn, dann kam das aus der Polizeiabteilungsleitung …
Klar ist jedenfalls, dass man „von oben“ Druck ausgeübt hat, um die Frage möglicher rechtsextremer Motive herunterzuspielen. Ganz in diesem Sinne wurde auch auf der gemeinsamen Pressekonferenz von Polizei und Staatsanwaltschaft Köln am Tag nach der Tat ein rechtsextremes Motiv mehrfach in Frage gestellt:
Zunächst gab es keine Hinweise auf einen Anschlag. (…) Aus den Opferpersonalien lassen sich keine Erkenntnisse über Hintergründe der Tat ziehen. Wir haben ebenfalls keine Erkenntnisse auf terroristische oder fremdenfeindliche Motivation. (…) Wir haben keine Hinweise auf eine terroristische Lage. Die Ermittlungen gestalten sich offen, sodass auch ein allgemeindeliktischer Hintergrund in Erwägung gezogen wird. (…) Der Generalbundesanwalt wird nach bisherigem Erkenntnisstand nicht übernehmen, weil kein Hinweis auf einen terroristischen Hintergrund vorliegt. (…) keine Rückschlüsse auf Parallelfälle …
Hier die Quelle.
Somit wird schon am 10. Juni 2004 die Festlegung auf einen nicht-rechtsterroristischen, allgemein kriminellen Hintergrund praktisch offiziell. Die Medien folgen weitestgehend der seitens der Behörden vorgegebenen Linie. Der Nachrichtendienst Reuters meldet an diesem Tag:
Geheimdienst sieht Kriminelle am Werk (…) Die Ermittlungen gehen nach wie vor in Richtung Organisierte Kriminalität …
Diese merkwürdigen Umstände führen zu Frage 2:
2. Welche Hinweise gab es auf einen rechtsextremistischen, rechtsterroristischen Hintergrund?
Die Bauart der Kölner Bombe hat eine gewisse Ähnlichkeit mit den Sprengsätzen, die der britische Neo-Nazi David Copeland im April 1999 bei drei Anschlägen in London verwendet hatte: Schwarzpulver als Sprengstoff, Zündung durch Glühbirnen, bei denen der Glaskolben entfernt worden ist. Und drittens Verstärkung der Wirkung auf Personen durch mit eingepackte Nägel. Sogar die Länge der Nägel stimmt mit rund zehn Zentimetern fast genau überein.
Nur der Zünder ist beim NSU ganz anders – keine primitive mechanische Vorrichtung wie bei Copeland, sondern eine elektrische Fernzündung mittels Modellflugzeug-Fernbedienung.
Dennoch: Das Bundesamt für Verfassungsschutz erkennt die Parallelen und legt im Juli 2004 ein neunseitiges Dossier vor, in dem über den Fall Copeland hinaus zudem ein möglicher Zusammenhang mit den Anschlag 2001 in der Kölner Probsteigasse hergestellt wird. Ebenso wird in der Schrift auf deutsche Sympathisanten der britischen neofaschistischen Organisation Combat 18 hingewiesen, die im Raum Köln ihren Wohnsitz haben. In der deutschen Version des von Combat 18 verlegten Magazins The Stormer war in Ausgabe Nr. 1 direkt zur Gewalt gegen Ausländer – im O-Ton „Zuhälterkanaken oder Dealer“ – aufgerufen worden.
Ob das Dossier der Verfassungsschützer die Kölner Polizei aber überhaupt erreicht hat, bleibt ungeklärt. Jedenfalls wurde das Dossier 2004 vom BfV an den Landesverfassungsschutz NRW geleitet – mit dem Hinweis, dieses an die Polizei weiterzugeben. Die Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses und die Aussagen befragter Zeugen sprechen klar gegen eine Weiterleitung. Hier wurden Chancen, die Ermittlungen in die richtige Richtung statt in den Bereich „OK“ zu lenken, offenbar tragischerweise verspielt.
Ebenfalls im Juli 2004 gibt das BfV eine Sonderveröffentlichung heraus, das BfV-Spezial Nr. 21 zur „Gefahr eines bewaffneten Kampfes deutscher Rechtsextremisten“. Einerseits wird in der Publikation die Bedrohung durch Rechtsextremisten als Terroristen heruntergespielt: „Derzeit (…) keine rechtsterroristischen (…) Strukturen erkennbar …“ – anderseits aber die Kleinstgruppenstrategie – wie eben beim NSU – korrekt beschrieben. Vor allem aber werden die NSU-Kernmitglieder namentlich im Kontext „Rohrbombenbau“ genannt.
Das Ganze liest sich im „Spezial“ dann so:
„2.10 Rohrbombenfunde in Jena … 1997 lagen Anhaltspunkte dafür vor, dass drei Mitglieder des neonazistischen „Thüringer Heimatschutzes“ (THS) im Raum Jena Rohrbombenanschläge vorbereiteten. Nach Hinweisen der LfV Thüringen durchsuchte die Polizei am 26. Januar 1998 in Jena die Wohnobjekte von Uwe BÖHNHARDT, Uwe MUNDLOS und Beate ZSCHÄPE sowie eine von diesen genutzte Garage. In der Garage stellte die Polizei vier funktionsfähige Rohrbomben sicher. Gegen die drei Tatverdächtigen erging Haftbefehl. Die Beschuldigten flüchteten daraufhin. Im Zeitraum zwischen April 1996 und Dezember 1997 waren im Raum Jena selbstgefertigte Sprengkörper bzw. Bombenattrappen aufgefunden worden. In einem der Fälle verurteilte das Landgericht Gera BÖHNHARDT in der Berufungsinstanz am 16. Oktober 1997 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und drei Monaten, die er noch nicht antreten musste. (…) Hinweise dafür, dass mittels der sichergestellten Rohrbomben konkrete tatsächliche Anschläge geplant waren, liegen nicht vor. Auch haben sich keine Anhaltspunkte für weitere militante Aktivitäten der Flüchtigen ergeben. Im Juni 2003 hat die Staatsanwaltschaft Gera das Ermittlungsverfahren gegen BÖHNHARDT, MUNDLOS und ZSCHÄPE wegen Eintritts der Verfolgungsverjährung nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.“
3. Welche Beamten hat Ali D. nach der Explosion auf der Keupstraße gesehen?
Der Steuerberater Ali D. berichtet, er habe unmittelbar nach der Bombendetonation vor seinem Büro zwei zivil gekleidete, aber mit Pistolen bewaffnete Männer auf der Straße gesehen. Einen habe er auch angesprochen und gefragt, was passiert sei. Die vermutlichen Zivilbeamten hätten, wie der WDR den Kurden zitiert, „Sportschuhe, Freizeitjacken, der eine ein kariertes Hemd“ getragen. Offiziell aber waren die ersten Polizisten am Tatort Stefan V. und Peter B., die zur Tatzeit zufällig am nördlichen Ende der Schanzenstraße mitsamt Hunden im Anti-Drogen-Einsatz waren – und zwar uniformiert und somit als Polizisten klar erkennbar. V. und B. befanden sich nach eigenen Angaben zum Zeitpunkt der Explosion ca. 500 Meter vom Anschlagsort entfernt (Nähe E-Werk, was allerdings rund 900 Meter direkte Distanz wären) und wollen sich – mehr oder weniger – unverzüglich nach dem Knall mit ihrem Einsatzwagen in Richtung Keupstraße in Bewegung gesetzt haben.
Doch selbst wenn die Polizisten sehr zügig losgefahren, in der Nähe des Tatorts irgendwo geparkt und dann sofort ausgestiegen sein sollten, müssten eigentlich einige Minuten vergangen sein, bevor Ali D. beide auf der Straße hätte sehen können. Ali D. will V. und B. zudem auf Videomaterial aus der Befragung der Beamten im Untersuchungsausschuss nicht wiedererkennen, das die Journalisten ihm vorlegen: „Die Männer, die ich gesehen habe, waren kleiner und kräftiger als die beiden Polizisten, die im Ausschuss waren“, erklärt D. gegenüber dem WDR. Und er ist sich sicher, dass die Männer, die er gesehen hat, ihre Waffen in Schulterholstern trugen, nicht wie bei der Polizei üblich, in Gürtelholstern. Weder B. noch V. können sich außerdem erinnern, von D. auf der Straße angesprochen worden zu sein. Und D. bleibt weiter bei seiner Aussage.
Hier passt also einiges nicht zusammen.
4. Warum war Andreas Temme am Tag des Anschlags in Köln?
Der mysteriöse Ex-Verfassungsschützer Andreas Temme, der sich ja auch 2006 beim Mord an Halit Yozgat unmittelbar am Tatort in Kassel befunden hatte, war am Tag des Bombenanschlags in Köln ebenfalls anwesend. Temme soll in der Stadt eine Tagung besucht haben, wie Hajo Funke auf seinem Blog berichtet. Weitere Erkenntnisse zu diesem wundersamen Zufall stehen derzeit noch aus. Wir sind gespannt.
-MR