Kleine Geschichte der russischen Fenster- und Balkonstürze (Teil 1: 2014-2020)

Die meisten Unfälle passieren ja bekanntlich in den eigenen vier Wänden. Und laut einer Studie aus 2016 entfallen rund 80 Prozent aller solch tragischer Ereignisse mit tödlichem Ausgang auf Stürze – typischerweise aus Fenstern oder von Balkonen. Klassische Risikofaktoren sind hierbei offenbar Alter, chronische Krankheiten, geringer sozialer Status. Verschärft wird das Sturzrisiko offenbar auch dadurch, dass man Funktionären des Kreml-Regimes irgendwie in die Quere kommt. Hier einige Beispiele aus jüngerer Zeit:

Scot YOUNG (8. Dezember 2014, 4. Stock, Fenster, Marylebone, London, verstorben)

Extrem komplexer Fall mit vielen Verbindungen in die britische Glamour-, Halb- und Unterwelt. Young galt als einer der wichtigsten „Fixer“ und Geldwäscher für den später bei Putin in Ungnade gefallenen Oligarchen Boris Berezovsky, der 2013 erhängt in seinem Badezimmer aufgefunden wurde. Der bestens vernetzte Brite und Mitglied der „Cipriani Five“ geriet offenbar unter anderem durch das „Project Moscow“ ins Visier des Kreml, ein millionenschweres Investment in einen Büroneubau in der russischen Hauptstadt. Young fungierte hier als Mittelsmann für Berezovsky, der als prominenter politischer Dissident unmöglich unter seiner realen Identität in Russland Immobilien hätte erwerben können. Rund 8 Millionen US-Dollar soll der Exilant auf diese Weise in das letztlich gescheiterte „Project Moscow“ gepumpt haben, wie Dokumente nahelegen, die BuzzFeed im Rahmen einer Recherche sichern konnte. Und: „SY was fronting for all this“, so das Gesprächsprotokoll einer Wirtschaftskanzlei. Um den Deal möglich zu machen, sollen laut BuzzFeed außerdem Schmiergelder an den Moskauer Bürgermeister Yury Luzhkov gezahlt worden sein, wie auch Young selbst gegenüber Mitinvestoren behauptet habe. Der FSB hielt Young offenbar bereits seit Februar 2002 unter Überwachung – damals trat Young in Russland laut Visitenkarte als „Consultant“ für den TV-Sender ORT auf, der zunächst Putin-freundlich, später zunehmend regimekritisch agierte. Miteigentümer von ORT: Boris Berezovsky – bis zum unfreiwilligen Verkauf seiner Anteile an Roman Abramovich.

Eine spannende Frage ist beim Fall Scot Young vor allem auch der Verbleib des Privatvermögens von rund 400 Millionen britischen Pfund, die möglicherweise vermittelt durch Firmen wie Mossack Fonseca auf Off-Shore-Konten deponiert gewesen sein könnten, auch wenn der Brite sich in seinem langwierigen Scheidungsprozess praktisch für bankrott erklärt hatte. Hatte Young sich bei den „falschen Leuten“ Geld geliehen, konnte die Schulden aber nicht abbezahlen, möglicherweise weil der Zugriff auf die versteckten Konten versperrt war? Oder umgekehrt: Forderte Young sein bei Unterweltkontakten verstecktes Geld ein – die wollten aber nichts herausrücken?

Young stürzte jedenfalls am 8. Dezember 2014 aus einem Fenster seines 3-Millionen-Pfund-Penthouses im Londoner Stadtteil Marylebone – und hing dann aufgespießt an den Spitzen des schmiedeeisernen Zauns. Seiner neuen Freundin Noelle gegenüber soll er seine Absichten unmittelbar vor seinem Tod noch in einem Telefonat offengelegt haben – das stärkste Indiz für einen Selbstmord in diesem Fall. Doch: „We had zero belief that he did this to himself“, war sich Youngs Tochter Sasha bereits unmittelbar nach dem tödlichen Sturz sicher. Die Ermittler erklärten den Fall dennoch innerhalb kurzer Zeit für „non-suspicious“.

Nikolai GOROKHOV (21. März 2017, 4. Stock, Balkon, Moskau, Schädelbrüche, überlebt)

Bei Gorokhov steht der etwas undurchsichtige Fall Sergei Magnitsky im Hintergrund. Die Story kurz zusammengefasst: Der ukrainische Berater Magnitsky arbeitete seit 1995 für die Kanzlei Firestone Duncan, die wiederum die US-amerikanische Vermögensverwaltung Hermitage Capital Management vertrat, die seit 1996 in russische Unternehmen investiert und hohe Renditen eingefahren hatte. Im Juni 2007 durchsuchten Beamte des Innenministeriums Büroräume beider Firmen in Moskau und beschlagnahmten verschiedenes Material, darunter auch zum Beispiel Firmenstempel. Kurz darauf wurden drei Tochtergesellschaften des US-Investors mithilfe der geklauten Stempel bzw. weiterer Manipulationen auf den dubiosen Viktor Markelow als neuen Inhaber umgeschrieben; diese Gesellschaften beantragten kurz darauf eine Steuerrückzahlung in Höhe von rund 230 Millionen US-Dollar, die bereits am nächsten Tag bewilligt wurde. Magnitsky initiierte seinerseits eine juristische Untersuchung um die verdächtigen Transaktionen aufzuklären – und wurde Ende 2008 wegen angeblicher eigener Steuerdelikte verhaftet. Rund ein Jahr später starb der 37-jährige in einer Isolationszelle im Moskauer Knast Matrosenruhe vermutlich an den Folgen von Misshandlungen durch Wärter bzw. unbehandelten gesundheitlichen Problemen, die während der Haft entstanden waren. Viele Umstände bleiben bis heute unklar, auch wo die offshore deponierten Millionen letztlich geblieben sind. Einige spannende neue Erkenntnisse lieferte immerhin die Enthüllung der „Panama Papers“ 2016.

Der Rechtsanwalt Nikolai Gorokhov vertrat die Familie Magnitskys und sollte am 22. März 2017 einen Termin bei einem Moskauer Berufungsgericht wahrnehmen, bei dem es um neue Ermittlungen im oben skizzierten Fall ging. Gorokhov stürzte einen Tag zuvor vom Balkon seiner Wohnung – angeblich beim Versuch, einen Jacuzzi per Kran in den 4. Stock zu befördern – und erlitt dabei Schädelbrüche sowie zeitweiligen Gedächtnisverlust.

„Das war kein Unfall“, so der Anwalt gegenüber dem US-Sender NBC: „Wenn der Staat Betrüger deckt, ist alles möglich“.

Maksim BORODIN (12. April 2018, 5. Stock, Balkon, Jekaterinburg, verstorben)

Einer der unbequemsten Investigativjournalisten in Russland. Borodin schrieb für das Online-Magazin Novy Den und recherchierte insbesondere zur halbstaatlichen Söldnereinheit „PMC Wagner“ und deren Aktivitäten im syrischen Bürgerkrieg. In seinen Recherchen förderte Borodin zum Beispiel zutage, dass viele der rund 200 bei einem amerikanischen Bombenangriff am 7. Februar in der Region Deir Al-Zour ums Leben gekommenen PMC-Mitglieder frühere Angehörige des Militärgeheimdienstes GRU gewesen waren – und das, wo doch die russische Regierung jegliche Beziehung zwischen Staatsorganen bzw. regulären Einheiten und der PMC-Truppe stets abgestritten hatte. Weitere Feinde hatte sich Borodin im Rahmen seiner journalistischen Arbeit offenbar auch mit korrupten Staatsbeamten im Oblast Swerdlowsk gemacht. Zuletzt soll der 32-jährige zu einem möglicherweise 2016 stattgefundenen Treffen zwischen dem Milliardär Boris Deripaska und Dmitri Utkin, GRU-Offizier und Gründer der PMC-Gruppe, in Krasnodar recherchiert haben.

Borodin stürzte am 12. April vom Balkon seiner Wohnung in Jekaterinburg und wurde schwer verletzt in Krankenhaus eingeliefert, wo er drei Tage später für tot erklärt wurde. Merkwürdig sind auch die Ereignisse vom Vortag: Frühmorgens am 11. April berichtete Borodin seinem Freund Vyacheslav Bashkov, das Wohngebäude sei von „Sicherheitsleuten“ mit Gesichtsmasken umstellt – kurz darauf soll er den Vorfall dann allerdings nur noch als „Übung“ bezeichnet haben.

Der Fall reiht sich übrigens ein in eine lange Serie von Morden bzw. ungeklärten Todesfällen von russischen Journalisten seit 1992 – auf der Liste ist Maksim Borodin die Nummer 58, wie das Committee to Protect Journalism vorrechnet.

Dr. Bruno Charles DE COOMAN (29. August 2018, 9. Stock, Fenster, Moskau, verstorben)

Direkte Hinweise auf „politische Motive“ oder Fremdeinwirkung gibt es in diesem Fall zwar keine – trotzdem ist die Geschichte um den belgischen Forscher irgendwie spannend und mysteriös. Dr. De Cooman war erst seit Juni 2017 als stellvertretender Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung für NLMK (Novolipetsk Steel) tätig, einen der größten Stahlproduzenten Russlands, als dessen Vorstandsvorsitzender der Oligarch Vladimir Lesin amtiert.

Sein privates Domizil hatte der renommierte Wissenschaftler, der zuvor unter anderem an der Universität von Ghent beschäftigt war, im exklusiven Haus an der Uferstraße in der Moskauer Innenstadt eingerichtet. Ein imposantes Gebäude mit langer Geschichte: Nach Fertigstellung 1931 zählten über mehrere Jahrzehnte Parteifunktionäre und andere prominente Figuren wie Nikita Chruschtschow oder der Rote-Armee-General Georgi Schukow zu den Bewohnern. In den Neunzigern entwickelte sich die „beste Adresse“ zur Heimat der Neureichen und Kriminellen; zahlreiche Neubezieher kamen in den Wirren der Wendejahre gewaltsam ums Leben, so dass die Mieter offenbar schnell wechselten.

Dr. De Cooman verlässt am 29. August 2018 sein Büro ungewöhnlich früh, kommt gegen Mittag vor dem 12-stöckigen Prestigebau an und gibt seinem (ebenfalls belgischen) Fahrer Bescheid, dass er kurz vor dem Gebäude warten solle. Laut anderer Quellen soll es sich bei diesem Begleiter übrigens um einen „Freund“ gehandelt haben. Jedenfalls dauert es nur wenige Minuten, dann schlägt der Körper des 59-jährigen Wissenschaftlers auf der Straße auf, nach einem Fall aus dem 9. Stock. Die Polizei sperrt die Straße ab, Ärzte stellen noch vor Ort den Tod fest.

Spuren eines Kampfes solle es laut Nachrichtenagentur TASS in der Wohnung nicht gegeben haben, auch lag wohl kein Abschiedsbrief oder ähnliches vor.

„He has made an invaluable contribution to the development of global steelmaking through product innovation“, erklärt noch am selben Tag die NLMK Group in einer kurzen Pressemeldung.

Jekaterina BOBKOVA (10. Mai 2019, 4. Stock, Balkon, Spindleruv Mlyn, Tschechische Republik, mehrere Frakturen, künstlicher Koma, überlebt)

8. Oktober 2018: Im Moskauer Edelbistro Coffeemania kommt es zu einer handfesten Auseinandersetzung zwischen den Profi-Fußballern Aleksandr Kokorin sowie Pavel Mamayev (seinerzeit kickten die beiden für Zenit St. Petersburg bzw. Krasnodar F.C.) und Denis Pak, Direktor beim russischen Ministerium für Industrie und Handel. Die Ursachen des Streits sind nicht 100 Prozent geklärt – Kokorin und Mamayev sollen laut Medienberichten aber offenbar betrunken gewesen und sich „proletenhaft“ verhalten haben. Von dem zufällig am Nebentisch sitzenden Pak auf ihren Auftritt angesprochen, flippte wohl als erstes Kokorin aus und zog dem Beamten nach zunächst verbalem Schlagabtausch einen Holzstuhl über den Schädel. Ein weiteres Mitglied der Kicker-Entourage (Mamayev?) verpasste Pak kurz darauf eine Ohrfeige, wie Videoaufnahmen belegen. In die Konfrontation soll mit dem ebenfalls anwesenden Sergei Gaysin, CEO der automobilen Forschungsanstalt NAMI, ein weiterer hoher Funktionär involviert gewesen sein. Außerdem anwesend: Jekaterina Bobkova, Model und Instagram-Sternchen.

Die Geschichte landet am 10. April 2019 vor dem Moskauer Presnensky-Gericht. Kokorin und Mamayev werden wegen „Rowdytums“ und Körperverletzung angeklagt. Bobkova tritt als Zeugin auf, nennt den Stuhl-Randalierer Kokorin dabei allerdings „Heilig! Er ist wie ein Engel. Freundlicher Junge, mitfühlend.“ (Link). Und vor allem: Sie weist die Schuld für den Eskalation im Coffeemania Denis Pak zu, der sich „aggressiv“ verhalten haben, wie RBC das Fotomodell zitiert. Die beiden Erstligakicker werden dennoch zu Haftstrafen verurteilt und sitzen rund 11 Monate im Straflager ab.

Am 10. Mai 2019 um ca. 23:00 stürzt Bobkova nach einer Party aus dem vierten Stock ihres Hotelzimmers im tschechichen Ski-Resort Spindleruv Mlyn. Die Folge: Rippen- und Beckenbrüche, Hirnblutung. Die Patientin wird in ein künstliches Koma versetzt und überlebt. Zeugen für den Sturz gibt es keine – doch Bobkova behauptet, sie sei vor dem 10-Meter-Fall unter Drogeneinfluss gesetzt und auf den Kopf geschlagen worden, wie die britische Daily Mail berichtet.

Pak und Gaysin wurden übrigens bereits wenige Tage nach der Prügelei von Vladimir Putin mit dem Orden „Für Verdienste um das Vaterland“ (2. Klasse) ausgezeichnet.

James LE MESURIER (11. November 2019, Balkon, Istanbul, verstorben)

Einer der „High-Profile-Fälle“ in dieser Sammlung. Der britische Mitgründer der auch als „Weißhelme“ bekannten Organisation Syria Civil Defence (SCD, Link) hatte sich mit seinem Engagement im syrischen Bürgerkrieg ab 2014 nicht nur Freunde gemacht. Russische und syrische – aber auch einige westliche – Medien bzw. Blogger stellten die SCD regelmäßig als „pseudo-humanitäre“ Tarnorganisation mit Al-Qaida-Sympathien an den Pranger. Das russische Außenministerium brachte Le Mesurier außerdem direkt mit dem britischen MI6 in Verbindung.

Le Mesurier wurde am 11. November 2019 am frühen Morgen tot vor seinem Haus im westlichen Istanbuler Stadtteil Beyoğlu aufgefunden. Ein Sturz vom Balkon wird als Todesursache angenommen – die exakte Ursache sei eine geplatzte Hauptschlagader gewesen, die wiederum mit Stresssymptomen in Beziehung gestanden haben kann, so der Befund der türkischen Ermittler. Bekannt ist außerdem, dass der Brite um etwa 02:00 Uhr seiner Frau Emma zufolge Schlaftabletten eingenommen hat. Ebenfalls interessant: Laut BBC soll der Aktivist in den Tagen vor seinem Tod Suizidgedanken geäußert und unter Medikation gegen Stress bzw. ein Belastungssyndrom gestanden haben.

Im Sommer 2020 – also nach dem Tod Le Mesuriers – erschienen im niederländischen de Volkskrant erste Berichte über angeblich veruntreute Spendengelder, die über die Zwischenorganisation Mayday Rescue Foundation von europäischen Staaten gezahlt worden waren, um die SCD zu unterstützen. Unter anderem deutsche Medien wie DER SPIEGEL widersprachen dieser Darstellung teilweise. Dennoch bleibt die Frage der Verwendung mehrerer Millionen Euro aus den Kassen der Stiftung wie auch die Rolle Le Mesuriers im angeblichen „Finanzskandal“ bis heute umstritten.

Dr. Natalya LEBEDEVA (24. April 2020, Fenster, Swjosdny Gorodok bzw. „Star City“, verstorben)
Dr. Yelena NEPOMNYASHCHAYA (25. April 2020, 5. Stock, Fenster, Krasnoyarsk, verstorben)
Dr. Alexander SHULEPOV (2. Mai 2020, 2. Stock, Fenster, Voronezh, Schädelbruch)

Interessantes „Cluster“, bei dem alle betroffenen Ärzte irgendwie in die Bekämpfung der C-Pandemie 2020ff. involviert waren und sich das Ganze in einem relativ engen Zeitfenster abgespielt hat. Gehen wir die Fälle mal nacheinander durch:

Natalya Lebedeva, Leiterin der Notaufnahme in „Star City“, einem Weltraumzentrum nahe Moskau, stürzte am 24. April offenbar aus großer Höhe aus einem Fenster des Krankenhauses – sie war nur wenige Tage vorher positiv getestet worden. Fakten, die den weiteren Verlauf erklären können, findet man in einem sehr guten Artikel auf reuters.com: Wurde Lebedeva zum Sündenbock für die sich in der Weltraumkolonie rapide verbreitende Virenplage gemacht?

Yelena Nepomnyashchaya, Chefärztin in einem Hospital für Kriegsveteranen in Krasnoyarsk, fiel am 25. April aus einem Fenster im 5. Stock. Der Sturz solls sich während eines Telefonats mit dem örtlichen Gesundheitsminister Boris Nemik ereignet haben, bei dem es um Pläne für das Umfunktionieren eines der Hospitalgebäude in eine Virenstation ging – eine Idee, gegen die Nepomnyashchaya vehement opponiert haben soll. Die Medizinerin erlag am 1. Mai ihren schweren Verletzungen.

Alexander Shulepov, der bei einer Rettungseinheit arbeitete, hatte sich am 22. April in einem Video auf VK über den Mangel an medizinischen Vorräten in seinem Hospital beschwert – und darüber, dass er trotz positiven Tests weiter zum Dienst erscheinen sollte (wenn auch ein späterer Test wohl negativ gewesen sein soll). Er stürzte am 2. Mai aus einem Fenster, überlebte aber mit Schädelverletzungen.

-MR

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