Das Phänomen „disappearing polymorphs“: wieviel Geheimnis bleibt?

Es ist ein Alptraum für jedes Pharmaunternehmen: Ein Medikament, das jahrelang für Milliardenumsätze gesorgt hat, verliert plötzlich drastisch an Wirksamkeit und muss schließlich sogar vom Markt genommen werden – obwohl an den Herstellungsverfahren, Inhaltsstoffen und äußeren Faktoren überhaupt nichts verändert wurde.

Wohl prominentestes Beispiel ist das HIV-Medikament Ritonavir, das ab 1996 von Abbott Laboratories unter der Handelsmarke Norvir™ vertrieben wurde (Link). In den ersten Jahren nach Markteinführung hochwirksam, verlängerte der als Kapsel eingenommene sogenannte Protease-Inhibitor die Lebenserwartung infizierter Patienten signifikant und verzögerte das Auftreten AIDS-typischer Symptome und Erkrankungen.

Doch 1998 standen die Laborteams des Pharmariesen vor einem Rätsel: Die neuesten Chargen der Gelkapseln wiesen in Tests plötzlich eine deutlich verminderte Lösbarkeit auf – und als Konsequenz auch eine deutlich geringere Absorptionsfähigkeit im Körper des Patienten, also einen Verlust an Wirksamkeit. Die Ursache wurde erst unter dem Mikroskop sichtbar: Die Ritonavir-Lösung hatte im Prozess der Festwerdung (Gel) von den Forschern unbeabsichtigt und unerwartet eine neue Kristallstruktur ausgebildet, fortan Form II genannt – und die alte, medizinisch effektivere Kristallstruktur, Form I, war verschwunden.

Fürs tiefere Verständnis an dieser Stelle ein kleiner Chemie-Exkurs: Kristallisation ist im Prinzip nichts anderes als der Übergang von „flüssig“ zu „fest“. Füllt man Wasser in eine Eiswürfelform und stellt diese ins Tiefkühlfach, kristallisiert das Wasser zu Eis. Ein anderes Beispiel: Flüssige Lava erkaltet, erstarrt und wird zu Basalt, Bimsstein oder ähnlichem – sie kristallisiert aus. Das Spannende: Die Kristalle sehen bei jedem Übergang ins Feste etwas anders aus, auch wenn der flüssige Ausgangszustand – beispielsweise eine Lösung – identisch war. Jeder kennt Fotos von Schneeflocken, die irgendwie immer „sechseckig“ sind, aber mit unterschiedlichsten Variationen und Verästelungen entlang der sechs Hauptachsen auftreten, unter anderem abhängig von Temperatur und Luftfeuchtigkeit.

In einigen Fällen, wenn auch deutlich seltener, kann eine identische Substanz aber auch völlig neue, bisher unbekannte Kristallstrukturen hervorbringen, die dann auch komplett andere (und vielleicht unerwünschte!) chemische Eigenschaften haben können. In der Fachsprache nennt man diese unterschiedlichen Grundstrukturen Polymorphe. Beispiel: Diamanten und Graphit sind Polymorphe des Elements Kohlenstoff.

Der Knackpunkt: Polymorphe stehen in „Konkurrenz“ zueinander, sogenannte „metastabile“ Polymorphe verwandeln sich unter Energie tendenziell weiter in eine „stabilere“ Form, nach mehreren ebenfalls metastabilen Zwischenzuständen wiederum nimmt diese später eine endgültige, stabile Kristallstruktur an. Die Gesetze, nach denen dieser Prozess abläuft, beschreibt die Ostwaldsche Stufenregel.

Hier wollen wir den Exkurs aber erstmal abkürzen. Denn entscheidend ist vor allem eines: Sobald der neue, stabilere Polymorph auftritt, lässt sich die bis dahin bekannte Vor- oder Zwischenform oftmals nur noch unter Schwierigkeiten bzw. unter Umständen gar nicht mehr in Laboren oder pharmazeutischen Fertigungsanlagen reproduzieren. Diese Situation hat zur Prägung des Schlagworts „disapperaring polymorphs“ oder eben „verschwindene Polymorphe“ geführt.

Und hier kommen wir zurück zum Thema Ritonavir: Form II ist der „stabilere“ Polymorph, er ist das Ergebnis einer natürlichen Weiterentwicklung – gleichzeitig aber bedeutet er einen Rückschritt für die Wirksamkeit eines Medikaments, das eben nur bei Vorliegen eines bestimmten Polymorphen (Form I) funktioniert.

Ritonavir ist vielleicht das prominenteste, aber bei weitem nicht das einzige Beispiel für verlorene Polymorphe. Es gibt zwei wissenschaftliche „Standardwerke“ zu diesem Phänomen: Die Urstudie „Disappearing Polymorphs“ von 1995 (Link zum PDF) und die 20 Jahre später erschienene Fortsetzung „Disappearing Polymorphs Revisited“ (Link).

Schaut man sich die dort beschriebenen rund 20 Fälle an, findet mal Parallelen, aber auch erstaunliche Unterschiede. Interessant und kontrovers sind nicht zuletzt diejenigen Einzelbeispiele, in denen durch die „neuen“ Polymorphe patentrechtliche Streitfälle entstanden sind und wissenschaftliche Gutacher zu stark divergierenden Einschätzungen kommen.

Die spannendsten Fragen im Überblick:

1. Ganz grundsätzlich: Warum lassen sich verschwundende Polymorphe oftmals nicht wiederherstellen? Oder anders gefragt: Unter welchen Umständen kann die alte Form weiter produziert werden?

Die Standardantwort auf die erste Frage lautet: Der neue, stabilere Polymorph hat das Labor oder die pharmazeutische Fabrik, in der er zunächst aufgetreten ist, mit Kristallisationskeimen „kontaminiert“ – denn die mikroskopisch kleinen Keime (es reichen winzige Partikel des neuen Polymorphs) vermischen sich über die Laborluft ähnlich wie Feinstaub mit der zu kristallisierenden Substanz oder gelangen in die Produktionsanlagen. Das Ergebnis: Der Kristallisationsprozess läuft, von den vorhandenen Keimen praktisch vorherbestimmt, unweigerlich auf die stabilere Form B anstatt der alten, metastabilen Form A zu. Werden solche Keime absichtlich eingesetzt, spricht man von „Impfkristallen“. Die unbeabsichtigte Kontamination – in der 2015er-Studie als „aggressive seeding“ bezeichnet – aber stellt Chemiker vor ein massives Problem.

Hinsichtlich der Möglichkeit einer „Reinigung“ bzw. Beseitigung der ungewünschten Keime dort, wo Form A, nicht Form B hergestellt werden soll, sind die in den beiden Studien geschilderten Fälle höchst unterschiedlich gelagert. Was bei Abbott Laboratories mit Ritonavir (bis zur Reformulierung) offenbar nicht funktioniert hatte, gelang aber zum Beispiel den Chemikern T. Kaabjerg Nielsen and L. Borka mit Benzocainpikrat, wie man in der späteren Studie nachlesen kann: „It was found that after discarding all samples, washing the equipment and laboratory benches and waiting for 8-12 days, the low-melting modification could be isolated again“ (Link). Ein weiteres Gegenbeispiel aus dieser Fallsammlung hingegen kommt vom Pharmakonzern DuPont, der angeblich nie wieder Form A statt Form B des Alzheimer-Wirkstoffs DMP543 kristallisieren lassen konnte, nachdem letztere sich ausgebreitet hatte.

2. Damit zusammenhängend und besonders kontrovers: Ist eine solche „Kontamination“ auch über größere räumliche Distanzen möglich?

Es scheint: Ist ein neuer, stabilerer Polymorph erstmal in der Welt, verdrängt dieser nicht nur lokal am Ursprungsort die bisher bekannte Kristallstruktur, sondern „verseucht“ im Laufe der Zeit sogar Labore an entfernten Standorten, in Einzelfällen sogar auf anderen Kontinenten.

Gleich das erste Fallbeispiel der ursprünglichen Studie aus 1995 veranschaulicht diese mysteriöse Keimverbreitung: Um das Jahr 1946 gelang Forschern in Cambridge und Jena zeitgleich die Herstellung von 1,2,3,5-Tetra-O-acetyl-/3-~-ribofuranose, jeweils mit identischem Schmelzpunkt (58°), was für denselben Polymorphen spricht. 1949 entstanden in einem Labor in New York City in einer Reihe von Versuchen zunächst die aus Jena und Cambridge bekannten Varianten, dann aber ein vermutlich neuer Polymorph mit deutlich höherem Schmelzpunkt (85°) – genannt Form B. Etwa zur selben Zeit wird Form B nun auch in Jena nachgewiesen, außerdem lässt sich Form A in New York nicht mehr reproduzieren – und die dort gelagerten Form-A-Präparate haben sich plötzlich in Form B verwandelt. Noch umheimlicher wird es, als die Kristallstrukturen nun auch im entfernten Cambridge spontan von Form A zu B mutieren. Erst viele Jahre später soll Form A durch Forscher in Budapest wiederentdeckt worden sein, so die 1995er-Studie.

Recht ähnliche Fälle findet man im Werk aus 2015 in den Kapiteln 3.3 (Paroxetinhydrochlorid) und 3.6 (DMP543): Teils innerhalb weniger Wochen bzw. über eine Distanz von mehreren Hundert Kilometern kann eine Kontamination stattfinden und ein neuer Polymorph dominant werden.

Im angelsächsischen Raum hat sich für diese „globale“ Kontamination der Begriff universal seeding eingebürgert. Die Hypothese: Keime haften zum Beispiel der Kleidung oder den Bärten (!) von Wissenschaftlern an, die erst an Ort X, später Y arbeiten und Kristallspuren so in sensible Räumlichkeiten wie Labore einschleppen. Eine Form B verbreitet sich demnach als „blinder Passagier“ von Stadt zu Stadt und Kontinent zu Kontinent. Ebenfalls denkbar: Kristallisationskeime geraten aus einem Labor in die Außenluft, schließlich wird in Reinräumen oftmals absichtlich ein leichter atmosphärischer Überdruck erzeugt, um Verunreinigungen fernzuhalten. Verteilen Wind und Wetter die Keime dann von dort über den ganzen Planeten? Beweise fehlen, sind aber auch schwer zu erbringen.

„… if one believes in Santa Claus, we might believe in these seed crystals“, polemisierte einer der Gutachter 1993 im Patentstreit Glaxo, Inc. v. Novopharm (Link).

Hoffentlich sehen wir bald eine weitere „Revisited“-Studie zu diesem faszinierenden Thema.

-MR

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